Heute gibt es 30 erhältliche arabische Koranfassungen, welche aus 10 Grundversionen entstanden sind. Das, obwohl immer wieder behauptet wird, dass kein Wort oder Buchstabe im arabischen Koran je verändert worden sei (Sure 85,21-22; 10,15; 15,9; 18,27).
Sure 85,21-22: „Es ist ein preiswürdiger Koran was hier verkündet wird, (im Original droben im Himmel) auf einer wohlverwahrten Tafel.“
Sure 10,15: „Ich darf ihn nicht von mir aus abändern. Ich folge nur dem, was mir (als Offenbarung) eingegeben wird.“
Sure 15,9: „Wir [Allah] haben die Mahnung hinabgesandt. Und wir geben auf sie acht.“
Sure 18,27: „Und verlies, was dir von der Schrift deines Herrn (als Offenbarung) eingegeben worden ist! Es gibt niemand, der seine Worte abändern könnte.“ (Koran nach Rudi Paret)
Nach der muslimischen Tradition erhielt Mohammed mündlich von 610 bis zu seinem Tod im Jahr 632 den Inhalt des himmlischen Korans durch den Engel Gabriel (Jibril). Der Koran wurde ihm in 7 Dialekten (Versionen, Lesarten) gegeben (Sahih Bukhari Band 6, Buch 61, Nr. 513). Der dritte Kalif ʿUthmān ibn ʿAffān (574-656) erstellte dann den Koran im quraischitischen Dialekt und verbrannte alle anderen Versionen, wie uns Al Bukhari (gest. 870) berichtet (Al Bukhari Band 6, Buch 61,510).
Da die diakritischen Zeichen und Vokale erst um 786 mit dem Wörterbuch von al-Farahidi schriftlich festgehalten wurden, verbrannte ʿUthmān damit unterschiedliche Konsonantenschriften (Rasm). Keines der frühen erhaltenen Koranmanuskripte (ab dem 8. Jahrhundert) enthält diakritische Zeichen und Vokale. So gab es auch keine Möglichkeit, dialektische Unterschiede aufzuschreiben. Da der Text nur aus Konsonanten (Rasm) bestand, fügten die Leser aufgrund des Kontextes selbst die Vokale hinzu. Daraus entstanden unterschiedliche Interpretations- und Rezitationsarten.
Der Gelehrte Abu Bakr Ibn Mujāhid (860–936) wählte aus den existierenden Varianten 7 Versionen als authentisch aus. Imām Muhammad Ibn al-Jazari (1350–1429) fügte noch drei hinzu. Somit gab es 10 Grundversionen. Schüler dieser Schulen erstellten daraus die 20 anderen Rezitationsarten. Eine davon ist die Version von Hafs (gest. 796), welche heute von 90 % der Muslime benutzt wird. Andere nehmen die Version von Warsh (gest. 812). Beide Fassungen gehören nicht zu den 10 anerkannten Grundversionen. Zwischen diesen beiden Versionen gibt es 51 bis 120 Unterschiede, welche die Bedeutung der Texte verändern. Dem Buch „The Readings and Rhythm of the Uthman (Qur’anic) Manuscript“ zufolge gibt es 1354 akzeptierte Unterschiede zwischen dem Hafs- und dem Warsh-Koran.
Wenn man Hafs mit 23 anderen Koranversionen vergleicht, gibt es über 93’000 unterschiedliche Lesevarianten, wie man die Koranverse verstehen kann. Das stellte ein Team um Hatun Tash fest, welches die arabischen Texte miteinander verglich.
Gemäß einer Untersuchung von Shady Hekmat Nasser gab es in den ersten zwei Jahrhunderten noch viel mehr Versionen des Koran (um 700). Deshalb legte Abu Bakr Ibn Mujāhid (860–936) fest, dass ausgehend von den von ihm ausgewählten 7 Grundversionen nur je zwei weitere Koranversionen anerkannt werden sollen.
Warum wurde 1924 gerade die Hafs-Version für die Kanonisierung gewählt?
An der Universität von Kairo gab es Probleme, weil die Studenten aus 30 verschiedenen Koranversionen zitierten. Daraufhin bat die Al-Azahar-Universität Muḥammad Ḫalaf al-Ḥusainī, eine Version für ihre Schule auszuwählen. Er wählte die Version von Hafs aus, welche in einem irakischen Dialekt geschrieben ist. Dieser Text war in der osmanischen Zeit (1299 bis 1922) sehr beliebt. Alle anderen Versionen wurden in den Nil geworfen. Doch in anderen Regionen waren die anderen Versionen immer noch in Gebrauch. Man kann sie heute noch kaufen.
1934 verfügte das Land Ägypten, dass die Koranversion von Hafs für alle Schulen in Ägypten maßgebend ist. Seit 1985 verbreitet die King-Fahd-Druckerei in Medina den Hafs-Koran in aller Welt. Die Entscheidung für die Hafs-Version war also eher politischer Natur und nicht das Resultat theologischer Grundlagenforschung.
Ein weiteres Problem ist, dass die anerkannte Hafs-Version nicht im quraischitischen Dialekt verfasst ist, welcher von Mohammed benutzt worden war. Es gibt heute keine uthmanische Koranversion im quraischitischen Dialekt mehr, obwohl dieses Dokument nach der muslimischen Erzählung damals zur Sicherung in 5 verschiedene Städte verschickt wurde (Medina, Mekka, Basra, Kufa und Damaskus).
Islamische Gelehrte behaupten, der Koran sei Gottes Wort, welches unverändert durch einen Mann an die Menschheit weitergegeben worden sei. Allah wache darüber, dass der Koran nicht verändert werde (nach Sure 15,9). Die 30 existierenden Koranversionen werfen deshalb Fragen auf.
Warum wird der heutige offizielle Koran (Version von Hafs) in einem Dialekt rezitiert, den Mohammed und seine Leute nicht gesprochen haben?
Warum gibt es 30 historisch anerkannte arabische Koranversionen, aber es fehlt der uthmanische Korankodex, welcher angeblich im ursprünglichen quraischitischen Dialekt geschrieben wurde?
Wie konnten verschiedene Versionen entstehen, wenn es ein wichtiges Fundament des Islams ist, dass der Koran nur in seiner ursprünglichen arabischen Version rezitiert werden darf und die Sprache des Korans als ein Wunder gilt?
Der arabische Originaltext des Korans gilt für Muslime als sprachliches Wunder – ob Reimprosa, Wortwahl oder Stilistik. Für Muslime ist die Einzigartigkeit des Korans, die auch in Sure 17, Vers 88 beschrieben wird, ein Beweis für dessen göttliche Herkunft. Sure 17,88: „Gesetz den Fall, die Menschen und die Dschinn [Geister] tun sich (alle) zusammen, um etwas beizubringen, was diesem Koran gleich(wertig) ist, so werden sie das nicht können.“
Warum stammen alle heute bekannten Koranversionen aus dem 8. und 9. Jahrhundert?
Die Koranversionen
(Ausgewählt von Ibn Mujahid, gest. 936, die ersten sieben) (Ausgewählt von al-Jazari, gest. 1429, die letzten drei) Im quraischitischen Dialekt von Medina (Mohammed)
Hauptkoran / Übertragungen
Nāfiʿ aus Medina (689–785 n.Chr.) / Warš (728–813 n.Chr.) / Qālūn (738–835 n.Chr.)
Ibn Kaṯīr aus Mekka (665–738 n.Chr.) / Al-Bazzī (786–864 n.Chr.) / Qunbul (811–904 n.Chr.)
Ibn ʿĀmir aus Damaskus (629–736 n.Chr.) / Hišām (770–859 n.Chr.) / Ibn Ḏakwān (789–856 n.Chr.)
Abū ʿAmr aus Basra (687–771 n.Chr.) / ad-Dūrī (860 n.Chr.) / as-Sūsī (etwa 806–875 n.Chr.)
ʿĀṣim aus Kufa (745 n.Chr.) / Šuʿba (714–803 n.Chr.) / Ḥafṣ ibn Sulaimān (709–796 n.Chr.)
Ḥamza aus Kufa (699–755 n.Chr.) / Ḫalaf (844 n.Chr.) / Ḫallād
Al-Kisāʾī aus Kufa (737–804 n.Chr.) / Abu-l-Ḥāriṯ (854 n.Chr.) / Ḥafṣ ad-Dūrī (763 n.Chr.)
Abu Ǧaʿfar aus Medina (748 n.Chr.) / Ibn Wardān (777 n.Chr.) / Ibn Ǧammāz (786 n.Chr.)
Yaʿqūb aus Basra (820 n.Chr.) / Ruwais (852 n.Chr.) / Rawḥ (849 n.Chr.)
Ḫalaf aus Kufa / Isḥāq (899 n.Chr.) / Idrīs (905 n.Chr.)
Die Rezitation nach Ḥafṣ ibn Sulaimān findet heute im größten Teil der islamischen Welt Verwendung, also im gesamten Nahen Osten, in Pakistan, in Indien und in der Türkei. Der Koran nach Warš wird vor allem in Nordafrika rezitiert; die Version nach Ḥafṣ ad-Dūrī in Teilen des Sudans.
Unterschiede zwischen dem Koran und der Bibel
Im Gegensatz zum Koran ist die Bibel nicht von einer einzigen Person verfasst worden, sondern von 40 Schreibern. Das zentrale Thema im Neuen Testament ist Jesus, der als das Wort Gottes bezeugt wird. Auch der Koran bezeichnet Isa (Jesus) als das Wort Allahs (Sure 3,45: „Gott verkündet dir ein Wort von sich, dessen Name Jesus Christus ist“; Sure 4,171 „Jesus Christus … ist nur der Gesandete Gottes und sein Wort … und Geist von ihm“).
Im Islam hat das Rezitieren des arabischen Textes Priorität und gilt als ein Allah wohlgefälliger Verdienst. Der christliche Glaube hingegen legt den Schwerpunkt auf das Verstehen und Umsetzen des Textes.
Das Neue Testament wurde in der damals üblichen griechischen Weltsprache geschrieben. Wie auch beim Koran sind nur noch Abschriften vorhanden. Um den ursprünglichen Text herzustellen, werden jedoch alle biblischen Textfunde miteinander verglichen, um Abschreibfehler zu entdecken. Es gibt maximal zehn bis zwanzig Verse, welche Fragen aufwerfen. Bei säkularen klassischen Werken sind dagegen oft Hunderte von Stellen unklar und entstellt überliefert. Beim Koran gibt es über 93’000 Lesevarianten. Eine textkritische Koranforschung gibt es nicht.
Text: Hanspeter Obrist